Interview – eine Betroffene spricht offen über ihre Krankheit

Trichotillomanie – das haarige Leid!

Mona ist Anfang 30 und leidet schon seit zwei Jahrzehnten an der Zwangskrankheit Trichotillomanie. Sie hat sich bereit erklärt, uns mehr über ihr Leben mit der Krankheit zu erzählen. Sehr transparent, berichtet sie uns von dem Krankheitsbild, dem Verlauf und teilt ebenso ihre Erfahrungen und wertvolle Ratschläge. (Der Name wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert).

Hallo Mona, danke für deine Bereitschaft, offen und ehrlich mit uns über deine Krankheit zu sprechen. Laut unserer Recherchen ist Trichotillomanie im Vergleich zu anderen eigenständigen Zwangskrankheiten, noch nicht allzu lange als solche entdeckt wurden. Vielleicht könntest du uns etwas mehr über das Krankheitsbild erzählen?

Hallo! Zunächst möchte ich mich für euer Interesse in Bezug auf Trichotillomanie bedanken. Was diese Krankheit betrifft, ist es leider so, dass die Krankheit bis vor Ende des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich sehr unbekannt war und eher als Tick oder schlechte Gewohnheit angesehen wurde. Trichotillomanie ist der zwanghafte Drang, sich Haare selbst auszureißen. Das betrifft bei den meisten die Kopfhaare, oft aber ist es auch eine Kombination, welche zusätzlich die Augenbrauen, Wimpern oder auch andere Körperhaare beinhaltet.

Welches Alter hattest du zu Beginn der Krankheit?

Wie auch bei den meisten anderen betroffenen Frauen, fing ich in der Pubertät mit etwa 13 Jahren an mir die Haare auszureißen. Zu dem Zeitpunkt, stand es aber noch völlig im Raum, worum es sich dabei überhaupt handelte.

Gab es einen bestimmten Auslöser, der dich immer wieder dazu bewegt hatte zu reißen?

Nein, zumindest keinen sehr großartigen, der mir in irgendeiner Weise bewusst wäre. Das ist das tückische an der Krankheit, in Kontakt mit anderen Betroffenen in Foren, konnten beim Austausch die meisten keinen Auslöser nennen, den sie bewusst wahrgenommen hätten. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass es einen Auslöser gegeben haben muss oder es ihn sogar noch gibt. Die Krankheit ist sehr komplex und noch nicht ausreichend erforscht. Nach langem Selbststudium denke ich auch, dass verschiedene Faktoren zum Auftreten dieser Krankheit beitragen können. Bei mir könnte ich mir die starke Sensibilität vorstellen, welche schon immer ein Teil meines Wesens war. 

Wie denkst du, könnten deine Sensibilität und Trichotillomanie im Zusammenhang stehen?

Ich denke, dass es vor allem auf den Zeitraum in der Kindheit zurückzuführen ist. Kinder haben ohnehin schon meistens sehr feine Antennen. Ist man, aber noch ein weites Stück sensibler als andere und gleichzeitig schüchtern, kann das auf Dauer problematisch werden. Ich selbst hatte eine wohlbehütete, liebevolle Kindheit, eine gute Bildung, finanzielle Sicherheit und viele Freunde. Das hatten aber nicht alle und genau das hab ich schon von klein auf im Kindergarten sowie in der Schule deutlich wahrgenommen. Ich habe dann immer viel gegrübelt, aber nie mit jemandem darüber geredet. Es hat mich belastet, wenn ich durch winzige Details spürte, dass es jemandem nicht gut ging. Ich wollte helfen und konnte nicht. Ich denke, dass das für ein Kind schweren Ballast bedeutet, der unverarbeitet im Inneren weilte. Ob dies nun letzten Endes der wahre Auslöser ist weiß ich nicht, ich konnte diesen Faktor jedoch im Rahmen der Therapie als mögliche Ursache herausfiltern.

Wie haben deine Eltern damals reagiert, als sie bemerkten, dass du dir die Haare ausreißt?

Sie gingen von einer schlechten Angewohnheit aus und forderten mich immer auf, damit aufzuhören. Doch als sich nach einiger Zeit dann auch schon die ersten kahlen Stellen am Kopf bemerkbar machten, fuhren sie mit mir zum Kinderarzt. Dieser empfahl mir, Baumwollhandschuhe zu tragen. Dies probierte ich dann auch aus. Tatsächlich brachte es meinem Drang Erleichterung. Da jedoch ein ständiges Tragen der Handschuhe für mich nicht infrage kam, war die erzielte Hilfe nur von kurzer Dauer.

Reißt du dir auch andere Haare aus?

Ja. Die Wimpern und Augenbrauen reiße ich seither ebenso aus. Am Anfang bemerkte man es optisch jedoch kaum. Mit den Jahren wurde der Drang immer stärker. Es schockiert und tut vielleicht auch euch allein schon jetzt beim hören weh, wenn ich erzähle, dass ich die Wimpern und Augenbrauen zum Beispiel mit der Pinzette ausreiße, weil es mit den Fingern zu schwierig ist.

Ja, das kann man sich als Unbetroffener gar nicht vorstellen, empfindest du dabei nicht furchtbaren Schmerz?

Diese Frage ist immer etwas schwierig. Ich empfinde den Schmerz zwar, doch wirkt sich dieser meistens erleichternd auf mich aus. Meistens reiße ich, wenn ich viel grübel. Ebenso reiße ich während ich Tätigkeiten ausübe, bei denen ich meine Hände nicht benötige oder zumindest nicht beide.

Was machst du mit den Haaren, nachdem du sie ausgerissen hast?

Ich sammel sie ein und werfe sie weg. Ich reiße manchmal viele einzelne Haare aus, oft aber auch ganze Strähnen. Wie schon erwähnt, dient es mir meistens als eine Art Entlastung, manchmal aber merke ich, wie angespannt mein Bauch auch dadurch ist. Man sieht dann die Büschel Haare, ist deprimiert darüber und gerät in einen Kreislauf der negativen Emotionen und Handlungen, den man unterbrechen muss.

Was kannst du aus deinen Erfahrungen mit der Therapie erzählen?

Ich habe am Anfang mehrmals den Therapeuten gewechselt, da die Chemie zwischen uns nicht stimmte. Bei einer Therapie ist es sehr wichtig, dass man sich mit dem Therapeuten auf einer Wellenlänge befindet, man sich verstanden fühlt und Vertrauen entwickeln kann. Da wir alle unterschiedlich sind, war die Suche bei einem so sensiblen Thema, nicht so einfach. Letzten Endes begab mich in die Hände einer sehr guten Therapeutin, von der ich sehr viel gelernt habe. Wir haben mein Reißverhalten genaustens beobachtet und analysiert, wann ich wo reiße und was ich dabei fühle. Ebenso haben wir beobachtet, ob dem Reißen eine besondere Situation vorausgegangen war. Ich habe auch gelernt, dass es Trigger gibt. Das sind Dinge, die mich verleiten, beziehungsweise dazu hinziehen, zu reißen. Dinge, die man mit den Sinnen wahrnimmt und dann sofort an das Reißen denkt. Dazu gehören bei mir Pinzetten und Spiegel. Ich habe entdeckt, dass ich sowohl beim Grübeln über negative Dinge, als auch durch Trigger oder aus der jahrelangen Gewohnheit heraus reiße.

Gibt es eigentlich auch eine medikamentöse Behandlung für Trichotillomanie?

Es gibt gute Medikamente, welche dazu verhelfen diese Störung der Impulskontrolle, einigermaßen gut in den Griff zu bekommen. Allerdings empfehle ich jedem immer über eine Kombination nachzudenken, während ich persönlich dabei eine Verhaltenstherapie als Hauptbestandteil betrachte und die medikamentöse Behandlung als unterstützenden Helfer. Eine Verhaltenstherapie halte ich für sehr wichtig. Durch die Beantwortung der im Rahmen der Therapie gestellten Fragen wird das Bewusstsein geweckt und stark aufnahmefähig. Man lernt einen bestimmten Anteil von sich selbst besser kennen und es manifestieren sich Erkenntnisse. Diese erleichtern deutlich den Weg zum Ziel.

Bist du aktuell reißfrei?

Nein. Es gibt immer wieder Ups and Downs. Anders als früher, bin ich aber nun der festen Überzeugung, dass man es mit der Kraft von innen heraus schaffen kann, wenn man diese immer wieder aufs Neue weckt und dran bleibt. Dies erfordert nicht nur Kraft, sondern auch Fokus und Widmung. Wie das Leben so spielt, steht einem Zeitmangel oft im Wege. Ich denke, dass der Weg zum Ziel Erkenntnis, Umdenken sowie eine Umgewöhnung beinhaltet.

Wie sehr belastet dich die Trichotillomanie im Alltag?

Meistens belastet es mich überhaupt nicht, zumindest nicht bewusst. Da ich schon um die 20 Jahre lang mit der Krankheit lebe, ist es für mich ein ganz normaler Teil von mir, an den ich mich gewöhnt habe. Das war natürlich nicht immer so. Am Anfang hat es mich sehr belastet, da ich in vielen Bereichen eine Einschränkung zu spüren bekam. Der Besuch zum Friseur Salon wurde immer seltener, sowie Schwimmbadbesuche. Vor jedem Ausgang der Stress, alles gut zu kaschieren. Irgendwann trug ich auch immer häufiger eine Cappy. Mein Glaube und die Therapie haben mir in den vergangenen Jahren jedoch viel Mut und Hoffnung geschenkt. Ich dachte damals immer, die Krankheit sei unheilbar. Ich versuchte mich damit abzufinden. Heute bin ich fest vom Gegenteil überzeugt. Natürlich gibt es ab und an Situationen, in denen ich mich eingeschränkt fühle, weil ich zum Beispiel darauf achten mag, dass die kahlen Stellen nicht auffallen. Auch das Kaschieren im Gesicht durch Make-up nervt mich manchmal. Insgesamt gesehen bin ich jedoch dankbar und zufrieden, dass es mich bisher im Leben bloß mit Trichotillomanie getroffen hat. Damit möchte ich das Leid der Krankheit nicht herunterspielen, nein, aber es gibt weitaus schlimmeres auf der Welt.

Was möchtest du den Menschen da draußen mit auf den Weg geben?

Angehörigen Erkrankter möchte ich raten, feinfühlig und bedacht mit dem Thema umzugehen, auch wenn das oft schwerfallen mag. Ich erinnere mich, dass es sehr bedrückend war, wenn mir jemand aus dem Umfeld sagte, ich solle doch einfach damit aufhören, dass könne doch nicht so schwer sein. Deshalb sagte ich eben Feingefühl, denn unbeabsichtigtes Unverständnis macht die Situation für Betroffene nur schlimmer. Mitleid ist ebenso ein sehr schweres Laster für die Betroffenen.

Ich rate Eltern, deren Kinder betroffen sind, so bald wie möglich nach Therapiemöglichkeiten zu suchen. Umso früher man die Krankheit richtig anpackt, umso eher kann man mit Erfolgen rechnen, da hier zumindest der Faktor der jahrelangen Gewohnheit des Reißens als Erschwernis ausfällt.

Betroffenen rate ich eine Verhaltenstherapie zu beginnen. Je nach Schweregrad kann man auch unterstützend die medikamentöse Behandlung, wie schon erwähnt, in Betracht ziehen. Außerdem rate ich an, mit anderen Betroffenen über die Krankheit zu sprechen, tauscht euch aus, profitiert von Tipps und Tricks und das Wichtigste: Spürt, dass ihr nicht allein seid mit eurem Problem. Baut Mut und Hoffnung auf, euch selbst zu Liebe!

Dem Redaktionsteam von starke-frau möchte ich von Herzen danken, für die Möglichkeit, von meiner Krankheit zu sprechen, denn nicht viele Menschen sind mit ihr vertraut. Ich hoffe, dass ich mit diesem Interview zu mehr Aufmerksamkeit zum Thema Trichotillomanie beitragen konnte.

Danke Mona, auch wir hoffen, dass so viele Menschen wie möglich von diesem Interview profitieren können! Wir danken dir für deine Zeit und Mühe, so offen und ehrlich mit uns über die Krankheit zu sprechen. Wir wünschen dir alles Gute und viel Erfolg!

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