Fragen über Fragen zur Entwicklung der Kinder – unser Interview mit Dr. Renz-Polster

Wir durften ihn interviewen: Dr. Renz-Polster.

Ein leidenschaftlicher Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor.

Dr. Renz-Polster

Dr. Renz-Polster hat seinen Fokus speziell auf die kindliche Entwicklung gerichtet. In einem Zeitalter der Informationsüberflutung, wissen Eltern bei bestimmten Situationen nicht mehr weiter. Deshalb haben wir von Starke Frau, ein Interview mit Dr. Renz-Polster durchgeführt, um Eltern Expertenrat aus erster Hand zu liefern. 

Herr Dr. Renz-Polster, ich begrüße Sie herzlichst. Immer häufiger bringen Frauen ihre Kinder per Kaiserschnitt zur Welt. Hat dieser Eingriff eine Auswirkung auf die Mutter-Kind-Beziehung? Wenn ja, inwiefern?

Das Geburtserlebnis steht für eine Familie zentral, weil die Mutter dadurch ermutigt, aber auch entmutigt werden kann. Und Mut braucht sie nach einer Geburt, bei all den Veränderungen des Lebens, die nun anstehen! Da ist jeder Rückenwind willkommen und eine als selbstbestimmt und gelungen erlebte Geburt gehört dazu. Ein Kaiserschnitt kann rettend sein und auch als Rettung erlebt werden. Er bedeutet oft aber auch eine Belastung für die ersten Tage und das macht das Kennenlernen des Babys schwieriger, etwa das Stillen. Auch zeigt sich, dass Babys nach einer Kaiserschnittgeburt in den ersten Tagen unruhiger sind. Glücklicherweise ist aber der Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung nicht an ein bestimmtes Fenster gebunden, das ist kein Urknall nach der Geburt, wie man früher dachte, sondern ein Weg und den können Mütter und ihre Kinder auch bei einem Kaiserschnitt gehen. Langfristig gleichen sich Startschwierigkeiten meist wieder aus. Jedenfalls gibt es keine Hinweise, dass durch einen Kaiserschnitt geborene Babys eine schlechtere Bindung hätten.

Welches Alter befürworten Sie für den Einstieg in die Kindergartenzeit, wenn Eltern die Arbeit nicht im Wege steht?

Kinder brauchen bis ins dritte, vierte Lebensjahr noch eine hohe Dosis an intensiven, verlässlichen Beziehungen zu ihnen vertrauten und feinfühlig auf sie eingestellten Erwachsenen. Richtig interessant und produktiv wird das Spiel mit anderen Kindern für die meisten Kinder erst im dritten Lebensjahr, jetzt erst stellt sich ihr Gehirn allmählich auf die Perspektive der anderen Kinder ein. Das spricht für mich dafür, die Kinder nicht zu früh in die Kita zu schicken. Und wenn dann in eine, in der sie wirklich eine verlässliche „Heimat“ und Begleitung erleben. Denn wenn die Kleinen dort gestresst sind, nutzt das beste Angebot nichts. Nur, die guten Krippen gibt es leider im echten Leben gar nicht so oft. Ich finde, wer die Möglichkeit hat, sollte sich keinen Druck machen lassen von den vielen Versprechungen, wie etwa dem der „frühen Bildung“ – die passiert auch Zuhause, wenn wir Freude mit den Kindern haben. Umgekehrt: wer mit den Hufen scharrt und als Mutter oder Vater mit dem Kind Zuhause unzufrieden ist, tut sich und wohl auch dem Kind keinen Gefallen. Jede Familie muss ihren Weg finden.

Welchen Umgang empfehlen Sie Eltern mit sehr anhänglichen Babys? Bedürfnisorientiert agieren oder ist dies auf Dauer eher kontraproduktiv?

Da verstehe ich die Frage nicht. Die Bedürfnisse des Kindes sind nun einmal da. Würden wir dazu raten in einer Ehe die Bedürfnisse des Partners zu ignorieren, nur weil er besonders anhänglich ist?

Wie wichtig sind Routinen und Rituale für Kinder?

Man wird kaum jemanden finden, der gegen Rituale argumentiert, und ich tue das auch nicht. Kinder schätzen Routinen etc. Nur, was Kinder vor allem schätzen, sind nette, verständige Eltern, und das wird vor lauter Ritualen manchmal vergessen. Kinder fühlen sich wohl, wenn sie mit Menschen leben, die menschlich und verlässlich mit ihnen umgehen, das gibt den Kindern Sicherheit, und nicht die Rituale per se. Manche Eltern meinen, schon Babys würden sich wohl und entspannt fühlen, bloß weil man immer zur gleichen Zeit die Zähne putzt oder die Spieluhr aufzieht, aber das ist natürlich Humbug. Das alles funktioniert für die Kleinen doch nur, wenn die Stimmung in der Bude stimmt. Das gilt auch für die Regelmäßigkeit. Kinder sind keine kleinen Rentner, wo immer alles nach Schema F laufen muss. Solange sie gute Begleitung und einen spannenden Alltag haben, sind sie sehr anpassungsfähig. Der Glanz in den Augen, das ist für sie wichtig, und der kommt weder von Ritualen, noch „Grenzen“ noch Regelmäßigkeit allein. Sondern von einem guten Leben.

Wie sollten Eltern darauf reagieren, wenn das Kind immer häufiger von einem unsichtbaren Freund spricht? Und in welchem Alter kommt dies häufig vor?

Es sollte die Eltern nicht verunsichern, die Kinder haben keine Macke, sondern legen sich Beziehungen an, auch über das in der Realität Vorgegebene hinaus. Oft sind es die Kindergartenkinder, die solche Freundschaften unterhalten, so ab drei bis ins Vorschulalter. Sie lassen sich einfach von einem Freund oder Freundin begleiten, mit denen reden sie und mit denen erleben sie auch so manches Abenteuer.

Bereits in der Kindergartenzeit werden manche Eltern damit konfrontiert, dass ihr Kind aggressives Verhalten aufweist. Beißen, kratzen sowie schlagen aus unersichtlichem Grund heraus. Meistens, erklären sich die Eltern damit, dass es bloß eine Phase sei. Wie Ernst, sollten Eltern aggressives Verhalten des Kindes gegenüber anderen nehmen?

Solche Aggressionen gehören zum Kleinkindalter wie das Amen zur Kirche, die Kinder haben schließlich Impulse, Frust und Wünsche wie wir Großen auch. Nur eben noch nicht die Bremsen, die dazu gehören. Am deutlichsten sind die Aggressionen im 4. Lebensjahr, dann nimmt das zumeist schnell wieder ab. Kinder dann als „böse“ zu behandeln oder sie gar zu Versöhnungen zu zwingen bringt ihnen nur bei, strategisch zu lügen. Denn sie haben keine Einsicht, dass ihr Verhalten „schlecht“ ist. Besser ist ihnen einen Alltag zu bieten, in dem sie wirksam sein können, in dem sie sich wohlfühlen und nicht immer nur Gebote und Verbote navigieren müssen, wie das in manchen Kitas der Fall ist. Gerade die Beißer, Hauer und Schubser brauchen echte pädagogische Güte.

Welche Voraussetzungen ermöglichen Kindern eine gute Basis für den Schuleinstieg? Wie können Eltern ihre Kinder dabei unterstützen?

Kinder, die wache Augen haben, die für sich und die anderen eintreten können, die also beherzt und neugierig aus der Kita kommen sind in der Schule nicht zu stoppen. Egal, ob sie die Zahlen schon können oder nicht, ja, und selbst dann nicht, wenn es an der Stifthaltung hapert. Wenn sie Probleme bekommen und sich nachher mit Ängsten und Stress plagen müssen, dann liegt es an der Schule und nicht an den Kindern. Ich will damit das sagen: die Kita ist keine Vorschule und die Familie erst recht nicht. Kinder, die als ganze Persönlichkeiten in die Schule treten, haben ein riesen Plus – und das für ihr ganzes Leben.

Wie sollten sich Eltern verhalten, wenn sie merken, dass eine bestimmte Freundschaft ihrem Kind nicht guttut?

Ich muss ehrlich sagen, dass ich das nicht weiß, denn es kommt darauf an, um welches Verhalten es geht. Generell sind aber Kinder keine Blätter im Wind und werden nicht zu anderen Menschen nur, weil sie gerade lieber mit einem etwas seltsamen Kind spielen. Da sind die Eltern besser aufgestellt als ich, das mit Gespür zu beantworten.

Abschließend würde ich Sie gerne fragen, welche relevanten Unterschiede sich im Vergleich von der damaligen Erziehung zu Heute erschließen lassen? Welche Dinge, sollte man heut zutage vielleicht wieder in die Erziehung integrieren?

Die Erziehung heute ist in vielen Dimensionen besser als früher, wir gehen heute achtsamer mit den Kindern um, setzen weniger auf Macht und Kontrolle, und das ist ein riesen Fortschritt. Denn Kinder, die immer nur folgen müssen, die immer nur auf Macht und Gegenmacht stoßen, werden hörig und haben kein Rückgrat. Ich glaube diese Lehre aus der Geschichte dürfen wir nicht vergessen. Auch sind Eltern heute vielfältiger in der Wahl ihres Erziehungsstils und klar kann man dann sagen „die sind unsicher“, aber wenn man bedenkt, wie viel Unfug in der Erziehung getrieben wurde, als sich alle sicher waren, dann denke ich, geht die Unsicherheit in Ordnung. Unsere Großeltern waren sich zum Beispiel sicher, dass frühe Sauberkeit was ganz Wichtiges ist und dass Babys nachts keine Aufmerksamkeit haben sollen. Oder, dass Schläge den Kindern guttun. Da ist die heutige Unsicherheit vielleicht eine Ressource. Natürlich würde ich mir viel für die Kinder wünschen und denke zum Beispiel, wir sind heute über das Ziel hinausgeschossen mit der ganzen „frühen Bildung“ und überhaupt der ganzen in Institutionen gepackten Kindheit – aber was soll ich jetzt klagen, wir werden uns als Gesellschaft darüber allmählich ja auch bewusst.

Herr Dr. Renz-Polster, wir danken Ihnen voller Hochachtung für das aufschlussreiche Interview und würden unsere lieben Leserinnen und Leser für mehr wertvolles Wissen sehr gern auf Ihre Webseite www.kinder-verstehen.de verweisen.

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